Leseprobe "Die kleine Walküre" - Band 1 der Reihe


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AUS DEM ERSTEN KAPITEL: "SCHWÄRMEREI"


Es war Sonntag Nachmittag. Tobias saß in seinem Bett und schmökerte in einem Sagenbuch mit rötlichem Samteinband. Es war sehr dick und man konnte sehen, daß nur der vordere Teil abgegriffen war. Schwärmend lag Tobias Blick auf einer Zeichnung, die eine wunderschöne Walküre mit Flügelhelm aus wolkenweißen Schwanen-Schwingen zeigte. Sie ritt auf einem stolzen Schimmel einem blondgelockten Jüngling zu, der am Boden lag. Und Tobias träumte sich an seiner Statt. Denn sie kam herangestoben um ihm zu helfen. So saß er still mit geschlossenen Augen, bis sie zu ihm gekommen war.


Daß Tobias die Göttergeschichten der Germanen liebte, und ganz besonders Walküren, konnte man seinem Zimmer ansehen. Denn überall hatte er Bilder von Walküren aufgehängt, aus Büchern herausgeschnitten oder sogar selbst gemalt, was er sehr gut konnte. Von seinen Eltern wußte er, daß die Germanen, deren Schwanenflügelhelme ihn so faszinierten, ihre Vorfahren waren. Um so seltsamer fand er es, daß fast niemand etwas von ihnen wußte und es viele so eigenartig fanden, daß es sein Faible war, wie es seine Eltern nannten. Er hatte sich sogar einen stattlich großen Schwanenhelm gebastelt. Dazu hatte er an Fasching einfach weiße Engelsflügel gekauft und sie sich um seine Stirn herum zurechtgebogen und sie dann an einen silbernen Plastikhelm angeklebt. Er sah damit fast so stolz aus, wie jener Jüngling in seinem Buch, den die so edle Walküre aufsuchte.

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Tobias schmökert gerne in seinem
roten Sagenbuch und schwärmt
leidenschaftlich für Walküren und
germanische Göttergeschichten. Deshalb
hat er sein Zimmer mit Walküren- und
Götterbildern regelrecht tapeziert. Einmal
einer wahrhaftigen Walküre zu begegnen,
ist sein größter Wunsch. Daß dieser in
Erfüllung geht und er der „ewigliche“ Held
des Walkürenmädchens Vala werden soll,
macht sein Leben zu einem einzigen
„walkürenhaften“ Abenteuer!




Im selben Moment, in dem er seine Mutter vor seiner Zimmertür sprechen hörte, vermeinte er den stattlichen Huf des mähnenreichen Walkürenrosses auf seiner Bettmatratze zu erblicken und war schon aus seinen Träumereien herausgerissen, in denen ihn die stolze Walküre soeben freundlich hatte ansprechen wollen. Bernsteinlichtes Haar, das voller geflochtener Zöpfe war, umwehte ihr ernstes Gesicht. Wie hätte ihre Stimme wohl geklungen?, fragte er sich.


„Unser Sohn läßt sich schon lange nicht mehr sehen!“ vernahm er seine Mutter durch die Tür hindurch zu Vater reden, der in der Küche saß und dort gerade Kartoffeln schälte. Blitzartig wurde seine Zimmertür weit aufgeworfen. Komm endlich in die Küche, helfen!“ meinte seine Mutter zu ihm. Sie war dabei so zerstreut, daß ihr Blick nur kurz über ihn hinwegschweifte.

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„Und, hat es Dir geschmeckt?“ fragte seine Mutter, als er seinen leergegessenen Teller satt von sich schob. Er nickte und meinte: „Zum Glück konnte man nicht schmecken, wie krumm und eckig die Kartoffeln von Papa geschält und geschnibbelt waren!“ Das Gesicht seines Vaters konnte sich nicht entscheiden, ob es lächeln oder grimmen sollte.


Als Tobias aufstehen wollte, um in sein Zimmer zu gehen, berührte ihn seine Mutter an der Hand. „Warte mal noch! Vati und ich haben eine Neuigkeit!“ Verwundert blickte Tobias zwischen beider Gesichter hin und her und versuchte aus ihren Mienen zu lesen, was sie schweigend und bald immer stärker grinsend vor ihm offensichtlich fast zu einem Geheimnis aufbauschen wollten.

„Also, was ist es denn jetzt?“ wollte er wissen. „Na, bevor du uns noch wütend wirst!“ lenke sein Vater mit ruhiger Stimme ein. „Wir fahren jetzt doch nächste Woche in den Osterurlaub! Ich habe doch am Museum freibekommen!“


„Das ist ja toll!“ freute sich Tobias. „Wo geht es denn hin?“ Diese ganz gewöhnliche Frage löste bei seinem Vater die denkbar größte Geheimniskrämmerei aus. Er beugte sich über den Tisch nach vorn, als ginge es darum Verbotenes zuzuflüstern. Je ernster sein Vater im Gesicht wurde, um so mehr mußte seine Mutter über beide Mundwinkel hinaus grinsen.


Wir fahren in eine Landschaft im Osten, die voller Ruinen sein soll. Wir haben auf einem Bauernhof für zwei Wochen eine Pension angemietet!“ rückte sein Vater endlich mit der Sprache heraus, nachdem Tobias vor innerer Spannung schon fast verärgert war.


Das ist ja großartig!“ war er jetzt jedoch wieder vollauf begeistert. - „Du be-
kommst sogar ein eigenes Zimmer!“ streute seine Mutter fröhlich ein. Tobias rief entzückt aus: „Das ist ja phantastisch!“ und dachte insgeheim bei sich, daß es dort, wo Ruinen in Ruhe vor sich hin verfallen, möglicherweise Walküren zu entdecken gäbe. Schließlich wußte er aus seinen roten Sagenbuch, daß deutschlandweit eine ganze Reihe von Orten als heimliche Walküren-Plätze überliefert sind.


So als wüßte sein Vater von seinem Vorhaben, legte der plötzlich eine Karte weit ausgebreitet auf den Tisch. „Genau da fahren wir hin!“ sagte er auffallend gut
gelaunt. „Du mußt mal all die Namen studieren, Tobias! Da gibt es Stätten die Sieben Gründe, Wunschelburg und ähnlich spannend heißen. Ich dachte mir, daß wir gemeinsam diese verwunschen klingenden Gegenden ergründen könnten!“


Oh, ja!“ sprang Tobias auf, um seinen Eltern um den Hals zu fallen. Zuerst war die Mutter dran, die direkt neben ihm am Kopfende des Küchentisches saß. „Gibt es auf dem Bauernhof auch Pferde? Vielleicht Schimmel?“ fragte er, da er diese Tiere liebte, waren sie doch die Lieblingsrösser der Walküren. „Warum müssen es nun wieder ausgerechnet weiße Pferde sein?“ fragte sein Vater, nachdem ihn sein Sohn gedrückt hatte.



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AUS DEM NEUNTEN KAPITEL: "EINE SCHWANENFEDER UND NEBEL IM ZIMMER"

Als Tobias aus dem etwas zu kalten Gästebad vom Zähneputzen kam, eilte er über den Flur in sein wärmeres Zimmer; er wußte seine Eltern noch bei Kurt und Fanny unten in der Stube sitzen. Seine erste Handlung, nachdem er dir Tür hinter sich abgeschlossen hatte, galt seiner wundersamen Schwanenfeder. Er holte sie aus der Kommode, wo er sie gut verborgen hatte und betrachtete ihre so reine Weiße im Licht einer kleinen Nachttischlampe. Er schmunzelte, als er spürte, wie sie erneut frei schweben wollte.


Er stand auf, um ihren Bewegungen nachzugeben, sie fein zwischen seinen Fingerspitzen haltend. Was dabei herauskam, sah aus wie ein wundersamer Tanz, der in seinen Drehungen und Figuren sehr edel wirkte. Vielleicht war es der Tanz der Schwäne?


Als er - ein wenig außer Puste - in der Mitte des Zimmers innehielt, fiel sein Blick durchs geschlossene Fenster nach draußen. Er war sehr verblüfft. Denn dort war ein dichter, wolkenweißer Nebel aufgezogen, ohne daß Tobias es bemerkt hatte. Dessen Schönheit zog ihn an. Er ging barfuß über den Wollteppich und bald berührte seine Nase fast das eingefaßte Glas. „So wundersam!“ raunte er, tief in den Dunst blickend.


Und dann hatte er soetwas wie eine Eingebung. Seine Hand öffnete das Fenster um den Nebel ins Zimmer zu lassen. Es war herrlich, wie die Schwaden über die Schwelle des Fensterrahmens hinwegzogen. Es sah aus wie die sacht fließenden Schweife von Fabeltieren. Er schmunzelte während der erste Nebelstreif über ihn hinwegglitt. Und da bemerkte Tobias wundersam, daß dieser weit wärmer war als die Nachtluft selbst.


Bald stand Tobias umsäumt von Nebel da, der das gesamte Zimmer dicht ausfüllte. Genau in dem Moment, wo er heiter auflachen wollte und doch alles so traumhaft unwirklich fand, sah er inmitten der sachte durch die Luft fließenden Nebelschwälle zwei ausgebreitete Schwanenschwingen. Es war ein weiterer wundersamer Anblick. Doch er erschrak, weil er annahm, daß ein Schwan zusammen mit dem Nebel in sein Zimmer geflogen wäre. Aber dann schimmerte etwas zwischen den Schwingen metallern. Er schaute sich dieses Schillern in der Luft an, starrte geradezu darauf hin und wußte nicht, was er darüber denken sollte. Mehrmals blinzelte er rasch hintereinander. Und mit einem Mal war da unmittelbar unter dem Metallglanz im Nebel ein sehr junges feines, geradezu edles Gesicht.


Das Bild zeigt eine Szene in der Wohnstube der Bauernhaus-Pension

Tobias stand mit offenem Mund da, in den Dunst
hineinfloß. Er konnte kaum glauben, was er so un-mittelbar vor sich sah! Und doch stand inmitten der
Nebelschleier ein immer deutlicher zu erkennendes
Walküren-Mädchen!


Die Schleier wirkten ganz so, als seien sie Bestand-
teile ihres schwanenweißen Kleides, die sich fast
wie im Tanz absichtsvoll um sie drehten. Und die
Schwanen-Schwingen gehörten zu ihrem bronz-
enen Helm! Ihr überaus langes Haar, in das schmale
Zöpfe hineingeflochten waren, leuchtete im Dunkel
regelrecht in einer glimmenden Farbe, die wie eine
Vermählung zwischen Sonnengold und Fuchsrot
war.


Tobias setzte mehrmals an, etwas zu sagen. Doch
seine Stimme versagte ihm. Er konnte nicht einmal
stammeln. Er bekam schlichtweg überhaupt nichts
heraus! Er war schier gebannt und folgte bald, ohne
es recht zu merken, dem hellen Blick ihrer Augen,
die so viel himmlisches Licht in sich trugen. Tobias
begann wechselweise zwischen ihrem Sommer-
sprossen tragenden Gesicht von schwanenweißer
Bläße und der Schwanenfeder in seiner Hand hin
und her zu schauen.


Irgendwie bemächtigte sich seiner die Ahnung, die Schwanenfeder gehöre ihr, weshalb sie hergekommen war, um sie sich wiederzuholen. Wenn sie ihm, der Walküren doch so aufrichtig verehrte, jetzt wegen eines vermeintlichen Diebstahles zürnte, es wäre auf ewig sein Ende!


Da hörte er ihre Stimme, die wie Honig klang: „Du
bist erstaunt, in mir eine Walküre zu erblicken, die
keine hehre Frau ist, sondern ein Kind wie du!“


Tobias war peinlich berührt. Sie schien Gedanken lesen zu können. Oder vielmehr Gefühle, wunderte er sich. Ungelenk hielt er ihr die Schwanen-Feder entgegen. „Hier, die gehört wohl dir. Ich wollte nichts stehlen! Ehrlich!“ sagte er hörbar aufgeregt. Die kleine Walküre lächelte, aber ohne über ihn zu lachen. Es war so herzergreifend, daß er, der ganz erstarrt dastand, plötzlich selbst heiter lachen mußte.


„Du kannst sie gar nicht stehlen! Sie hat dich gefunden! Sie ist von mir in der Ruine des Falkenturmes für dich hinterlegt worden, lange bevor du überhaupt wußtest, daß du diesen Urlaub machen wirst und gehört jetzt zu dir, wie sie zu mir und allen Walküren gehört. Sie war Teil meines Flugkleides, das ich von den neun großen Walkürenschwestern verliehen bekommen habe.“ Sie erklärte das alles erhaben. So mystisch redend, hatte er sich Walküren immer vorgestellt. Er war begeistert, auch wenn er vor Aufregung fast nichts verstand.


Die kleine Walküre sah es den Falten seiner Stirn an, wenn sie nicht noch tiefer in ihn zu blicken vermochte. „Sieh!“ sagte sie dann, lief zu seiner Überraschung zu seinem rot gebundenen Sagenbuch auf dem Nachttisch, schlug es auf, blätterte ein wenig darin herum, sich einlesend. Währenddessen schwebte sie einige Zentimeter über dem Boden!


Ich lese es Dir vor!“ kündigte sie an, und Tobias wurden die Beine plötzlich ganz weich, sodaß er sich auf den Teppichboden niederstetzte. Sie sah es nachsichtig aus ihren Augenwinkeln; sie wußte wieviel er heute gelaufen war, um sie zu finden, auch wenn er es selbst in gewisser Weise gar nicht gewußt hatte.

„Also höre, Menschenjunge, der du ein Held wie ehedem werden willst!“ Und Tobias bemerkte, daß allein ihr Atem das ganze Zimmer mit dem edlen Odem von Honig füllte. „Auch wenn nicht alles stimmt, was in solcherlei Büchern über uns geschrieben steht. Hier steht etwas Wahres groß und breit: ‘Walküren vermögen die schlummernde Kraft jugendlicher Heldensöhne zu wecken. Ihre Erscheinung ruft den hindämmernden Jüngling auf, er empfängt von ihr das wunderbare Heldenschwert und wird mit ihr in unzertrennlicher Liebe verbunden. Auf ihren Luftrossen schwebend, erweisen die Walküre ihre schützende Gegenwart gegen Feinde, die ihrem Günstling zu schaden drohen.‘ “


Sie sah feierlich zu ihm hin und klopfte auf sein germanisches Sagenbuch. „Gut, daß dich all diese Geschichten auf das Kommende vorbereitet haben. Und darauf, wer du bist! Aber das wird dir zur passender Stunde geoffenbart werden!“ Die kleine Walküre, die etwas größer als Tobias war und vielleicht um ein Jahr älter aussah, blickte ihn milde an.


Tobias, der nicht mehr wußte, was er denken sollte, wurde urplötzlich von einer unsichtbaren Kraft im Nebel wieder aufgerichtet.


„Für heute ist es genug, wenn du meinen heiligen Walkürennamen erfährst, den du aber niemandem nennen darfst!“ Sie klang ganz zärtlich, aber auch feierlich. Und dann schwebte sie mit einem Mal neben Tobias und raunte ihm ihren Namen „Vala“ ins Ohr, was wundersam kitzelte und zugleich sicherstellte, daß nur er es hörte. Es war ein Moment, der wie aus einer kleinen Ewigkeit gemacht schien, befand Tobias, da ihn der Klang ihres Namens im Inneren ganz wohlig erfüllte. Wie schlaftrunken stammelte er: „Du bist wirklich die, die ich sehnend suchte.“ Es war keine Frage mehr, und er vermochte seine Augen nicht mehr offenzuhalten.


Sie lächelte und bemerkte, daß er bereits wie ein Held alter Zeit edel zu sprechen begann. Schwebend trug ihn Vala auf den Armen zu seinem Daunenbett hinüber und stellte sich dabei vor, ihn auf die gleiche Weise vor argen Feinden in Sicherheit zu bringen, wie es die erwachsenen Walküren mit ihren echten Helden zu tun pflegen. Kaum daß Tobias darin wie in Wolkenkissen lag, schlief er auch schon selig ein. Damit mochte wohl auch der Wille des Walküren-Mädchens etwas zu schaffen haben. Denn sie beschaute sich daraufhin Tobias schlafendes Gesicht eine ganze Weile. Und zwar halb angestrengt und halb mit zärtlichem Lächeln auf den Lippen. Es war, als fühlte sie in ihn hinein und vermochte dabei etwas von seinen Träumen zu erhaschen. Ehe sie heimflog, verwahrte sie für ihn die Schwanenfeder in der Kommode.


Mit all dem Nebel, dessen Schleier sich um ihre bronzen schimmernde Walküren-Brünne wie ein Kleid legten, flog Vala aus dem offenen Fenster hinaus. Zum Abschied sah sie sich von draußen nochmals zu Tobias um. „Auf bald!“ hauchte sie. Und alles, was vom Nebel im Zimmer zurückblieb, war das kleine bißchen Dunst, das sich in Tobias‘ Mund verloren hatte.




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